Eigene Texte

Ausstellung "Bodykörper" 21.April - 23.Mai 2009 Stadtbibliothek Karlsruhe
Erläuterungen zu der Installation "Scheiterhaufen"

Alle Bilder, Texte und sonstige Gegenstände bei dieser Installation sind von mir, mit Ausnahme der auf dem Boden liegenden Textfetzen, welche von Simone Weil und Etty Hillesum stammen. Etty Hillesum und Simone Weil haben einige Gemeinsamkeiten. Sie sind die gleiche Generation (Simone Weil wurde 1909 geboren, Etty Hillesum 1914), beide kamen aus jüdisch-bürgerlichen Verhältnissen und beide starben jung. Etty war nur 29 Jahre alt als sie1943 in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde, Simone starb mit 34 Jahren an Hunger und Herzinsuffizienz nach einem bewegten Leben, welches der Résistance sowie der Suche nach dem Absoluten gewidmet war.

Die allerwichtigste Gemeinsamkeit von Simone und Etty bestand darin, dass sie, inmitten von Krieg, Untergang und Leid, zu einer inneren Ruhe und Stärke fanden, welche Ihnen die Liebe zum Leben und zu ihren Mitmenschen schenkten und es ihnen absolut unmöglich machten, selbst den schlimmsten Feind zu hassen. Hierzu schreibt Etty: "Ich hasse niemand. Ich bin nicht verbittert. Wenn die allgemeine Liebe zu den Menschen sich einmal entfaltet hat, wächst sie ins Unermessliche." Erstaunlich ist auch die Tatsache, dass eine religiöse Erziehung kaum eine Rolle in der Kindheit der beiden Frauen spielte und sie doch ein unvorstellbar reifes und inniges Gottesbild in sich trugen. Sowohl Etty als auch Simone blieben dem mystischen Prinzip des "katholos" (=auf Griechisch "universell") treu, wonach Gott alles einschließt und niemals ausgrenzt. Obwohl Simone Weil sich als Geliebte Christus verstand, blieb sie bewusst vor den Toren der katholischen Kirche draußen, da sie Christus genauso in den anderen Weltreligionen gespiegelt sah.

Im Gegensatz zu Simone Weil, deren philosophisches/mystisches Werk weltweit verbreitet ist, ist Etty Hillesum außerhalb der Niederlanden weniger bekannt. Es gibt nur ein Werk von ihr: "Das Denkende Herz", ihr Tagebuch aus den Jahren 1941-1943, welches wie durch ein Wunder den Holocaust überlebte. Doch die Zeugen, die uns den Weg durch die Krise vorleben und vorgelebt haben und uns helfen, das Scheitern zum blühen zu bringen, sind nicht vom Bekanntheitsgrad abhängig. Sie können überraschend und im richtigen Augenblick wie verborgene Schätze auftauchen. Ja, wir begegnen ihnen vielleicht nur, weil wir scheitern. Ähnlich wie Simone schreibt Etty: "…alles ist immer gut, so wie es ist. Jede Situation, so elend sie auch sei, ist etwas Absolutes und hat das Gute und Schlechte in sich eingeschlossen."

Beide Frauen finden ihre Bestimmung darin, in den "Teig der Menschheit einzutauchen "(S.W.) oder dort zu sein "…in den Baracken voll aufgeregter und verfolgter Menschen" (E.H.). In ihrem Tagebuch stellt Etty fest: "Für das ungebrochene und strahlende Gefühl in mir, das auch das Leiden und die Gewalt einbezieht, kann ich die richtige Sprache noch nicht finden." Und Simone betont, dass das Gute nur die Seele ergreift, wenn sie Ja zu allem gesagt hat: "Ich bin überzeugt, dass das Unglück einerseits, und anderseits die Freude als rückhaltlose, uneigennützige Zustimmung zu der vollkommenen Schönheit, dabei den Verlust der persönlichen Existenz implizieren, die beiden einzigen Schlüssel sind, mit deren Hilfe man in das reine Land gelangt, das Land, wo sichs atmen lässt; das Land des Wirklichen."

Scheiterhaufen, wie auch Leid und Unterdrückung, gab es in allen Jahrhunderten. Das Scheitern ist ein harter Anstoß für den Einzelnen und für die Gesellschaft. Angesichts solchen Vorbildern wie Etty Hillesum und Simone Weil, kann leicht das Gefühl der Überforderung aufkommen. Etty steht zu ihren Begrenzungen wenn sie schreibt: "Das könnte mich zur Verzweiflung bringen, wenn ich nicht gelernt hätte, dass man auch mit den unzulänglichen Kräften, die man besitzt, ans Werk gehen und mit ihnen arbeiten muss."

Selbst die Natur bedient sich des Scheiterns um sich zu erneuern, z.B. in Form von Erdbeben oder Orkanen. Doch für uns bedeuten Naturkatastrophen Tod und Zerstörung. Simone Weil aber, verknüpft das einzelne Schicksal mit dem kosmischen: "Das Universum dauert auch dann fort, wenn der Mensch stirbt. Das ist für ihn kein Trost, wenn das Universum etwas anderes ist als er selbst. Ist jedoch das Universum für mich wie ein anderer Leib, dann hört mein Tod auf, für mich von größerer Bedeutung zu sein als der Tod eines anderen."

Auf dem Boden der Installation werden Sie entstellte und verbrannte Fotos finden, welche zerstörte Menschenleben symbolisieren. Ich lade Sie dazu ein, ein "Restfoto" mitnehmen. Auch von den zerknüllten Textfetzen können Sie sie sich eins auswählen. Ich empfehle Ihnen, Foto und Text blind auszusuchen.

Etty Hillesum hat ihren letzten Brief aus dem fahrenden Zug Richtung Auschwitz geschmissen. Sie schrieb darin: "Wir haben das Lager singend verlassen."







Foot - Age

Footage Foot-age Foot Feet Fußweg Fuß-Weg Finger-Food Food for Thought Foot-Food Fast-Food Foot-in-your-Mouth Footprints Foot-Steps Steppschuhe Steps Stair Stairway to Heaven Shoe-Sole Shoe-Soul Schuhsohle Schuhseele Feng-Shoe-I Down the Beaten Path

Ein Fußabdruck bleibt nie allein. Mensch und Tier gehen weiter. Was bleibt ist ein Spur-Zeichen, eine Information, ja, ein sichtbarer Austausch mit dem jeweiligen ökologischen Environment. Aus vielen Abdrücken entsteht einen Stück Fuß-Weg, "Footage", welcher diesen Austausch dokumentiert.

. "Footage" ist die Summe einer Fläche in "feet" gemessen Doch am meisten assoziiert man das Wort mit Filmmaterial. Der "Footage" von einem Drehtag zum Beispiel. Ich verstehe den Begriff "Footage" als Metapher. Wir gehen und erleben Ausschnitte. Manchmal lüpft sich der Vorhang. Ein anderes Mal erleben wir das Göttliche buchstäblich am Boden. Fußabdrücke bündeln sich zu Fuß-Geh-Wegen.

Ich lasse die Orte, denen ich als Austauschfelder für meine Arbeiten begegne, so, wie ich sie vorfinde. Alle Spuren von Mensch und Tier bleiben intakt. Ich erlebe dieses Setting wie ein fortgeschrittenes Leinwandbild oder auch wie ein extrem langsam ablaufender Film, der sich ständig ändert und an dem ich auch für eine begrenzte Zeit meine "Footage" dazu kollagieren darf. Setze ich meine Arbeiten längere Zeit den Naturgewalten (sowie die Gewalten von Passanten und pinkelnden Hunden) aus, findet ein noch größerer Austausch statt. Der Ort und die Kunst wachsen zusammen. Wieder getrennt, nehmen beide Seiten diese neue Prägung mit. Der Alltags-Footage, deren Summe unser Lebens-Abdruck bedeutet, wird sichtbar. "Foot-Age" ist für mich, die Steigerung von "Footage":

Der Fußabdruck durch die Zeit.

Karlsruhe 2007






Eröffnungsrede anlässlich der Ausstellung
"Tutilo Karcher, Köpfe und Bäume - Malerei und Graphik" in der Galerie Bode, Karlsruhe

Eine Nase voraus

Lieber Tutilo, liebe Dorothee, sehr verehrte Gäste der Ausstellung "Köpfe und Bäume",

wissen Sie, wisst ihr, wie richtig gute Kunst entsteht? Zündende Ideen und handwerkliches Geschick können dazu beitragen, ein Gespür für den Zeitgeist ist auch hilfreich. Doch ganz gleich, ob in der Musik, der Literatur oder, in Form von Grafik und Tafelbilder, eine Vorraussetzung ist unentbehrlich: gute Kunst entsteht, wenn das Wesen des Künstlers mit seinen Werken übereinstimmt. Der schöpferische Prozess ist das Suchen, Finden und Verwandeln in das Gemäße, das Stimmige, welches das Authentische in sich birgt. Der Künstler, sagte Albert Camus, bewegt sich auf dem schmalen Grad zwischen Kitsch und Moral. Hartnäckig, gelegentlich leicht wahnsinnig, geht er den ihn spezifischen treuen Weg. Von der Welt wird der Künstler, die Künstlerin, nicht unbedingt dafür Beifall ernten. Auf der rationalen Ebene ist es ihm sogar selbst nicht immer bewusst, dass er in seiner Kunst sein Wesen ausdrückt. Aber solange die salto-vitale des schöpferischen Prozesses genauso wichtig bleibt wie das Ergebnis, spuckt der schmale Grad doch am Ende gute Kunst aus.

Was steckt wirklich hinter dem Zauber der Arbeiten von Tutilo Karcher? Tutilo Karchers Welt ist geprägt von Schauen, und noch mal von Schauen, um sich dann, nach einer weiteren, ausgiebigen Schaumahlzeit, ins Handeln zu verwandeln. Seine Bilder kann man auf dem ersten und auf den zweiten Blick begegnen. Und noch dazu via einen verborgenen Blick. Auf dem ersten Blick wirken er und seine Kunst eher unscheinbar. Tutilo Karcher ist ein freundlicher Zeitgenosse. Er trägt keinen goldenen Ohrring, noch umgibt er sich mit Pitbulls. Er setzt sich nicht ins Szene, nicht, weil er dazu nicht fähig wäre, sondern weil es ihn überhaupt nicht interessiert. Seine Themen kreisen um Menschen, Dinge und Vorgänge in seiner Wahlheimat Karlsruhe. Die hier ausgestellten Arbeiten reichen bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Kein Motiv entgeht Tutilo. Oder besser gesagt, alles ist Motiv! Er sagt immer, dass er erst die Bank und dann das Motiv sucht. Er liebt es, banales und heiliges zu vermischen, ja, gerade das Banale hat für ihn heilige Züge. Er ist ein sympathischer Spanner, der den gassi-gehenden Hund samt Hundebesitzer beobachtet, sowie die alte Frau in der Kirchenbank und den Obdachlosen vor Aldi. Ich behaupte auch, dass er im Umkreis der Innenstadt von Karlsruhe jeden gefällten Baum sowie den Zustand sämtlicher Baustellen kennt. Tutilo Karcher kann in seinen Bildern unsere Aufmerksamkeit zu den einfachsten Dingen hinlenken. Alles ist für ihn Gleichnis, ja, er liebt Metaphern, aber seine Schöpfungen tragen stehst ihren Alltagsdress, denn alles Abgehobene, welches ihm gänzlich fremd ist, baut keine Beziehungen auf.

Es entsteht ein Reiz, verehrte Besucher und Besucherinnen, ja, ich wage ihn als Faszination zu bezeichnen, wenn ein Mensch die Langsamkeit so verinnerlicht hat wie Tutilo Karcher. Und doch ist er uns allen eine Nase voraus! Ist nicht die Langsamkeit in aller Munde, die neue Göttin, die uns aus den Fängen der virtuellen Schnellspur retten soll? Und in einer Welt, die ökologisch, politisch und religiös-psychologisch hyperventilierend den Zusammenbruch naht, ist nicht einer, der einfach stehen bleibt und schaut und dankt ausgesprochen wegweisend? Liebe Gäste, gehen Sie nachher spazieren in ein Baumblatt von Tutilo Karcher. Spüren Sie nach, wie der Stichel langsam und ruhig über Stunden, Tage, ja sogar über Jahre hinweg die Kupferplatte mit einer feinen Verästelung von Strichen bedeck, lebendiges und genaues vereinend. Ich verspreche Ihnen, so werden Sie über den zweiten Blick in den verborgenen Blick gelangen.

Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund gesehen werden Sie sicherlich den Titel dieser Ausstellung besser verstehen. "Köpfe und Bäume". Was der verborgene Blick seiner Arbeiten angeht, trinkt Tutilo Karcher, wie die Bäume auf seinen Grafiken, von tiefem Grundwasser, sprich gläubigen Quellen. Doch, weder moralisiert er in den Baumkronen herum noch stürzt er in Camus Grab der Belehrung. Es lässt uns, den Betrachtern, immer Raum, sich selbst in den Bildern zu entdecken: mal als Spötter, oder als Verspottete, doch immer als Menschgewordener. Nichts ist reglementiert, und die Tendenz ist eher steigend, denn der schwarze Glauben von Tutilo Karcher trägt keine schwarzen Züge.

Tutilo Karcher besitzt eine weitere Fähigkeit, um die wir ihn alle beneiden können: die Gabe, in der Gegenwart zu verweilen. Er kann die BNN im Schaufenster am Marktplatz lesen, während er gleichzeitig im Geiste den nächste Kupferstich der Pyramide entwirft, oder eine Tasse Kaffee mit seinen Kumpels bei Tchibo trinken und Charakterstudien betreiben. Was mich schon immer an ihm fasziniert hat ist die Tatsache, dass man ihn so selten arbeiten sieht. Arbeitet in dem Kontext, wie wir gewöhnlich Arbeit definieren. Und doch habe ich mit der Zeit begriffen, dass es kaum Zeiten gibt, in denen er nicht arbeitet. Tutilo Karcher bei der "Arbeit" zuschauen zu wollen, ist, wie der Wunsch, einer Pflanze beim wachsen zuzuschauen. Und doch, und doch, plötzlich sind die Blüten da!

Tutilo Karcher ist, liebe Besucher und Besucherinnen, ohne seinen Humor überhaupt nicht vorstellbar. Karl Valentin und Buster Keaton hätten an seinen knitz-melancholischen Alltagsphilosophien ihre wahre Freunde gehabt. Achten Sie darauf, welche kleinen Details er in den Bildern versteckt! Gleichzeitig ist er ein Meister des Weglassens. Sie meinen, alles ist dargestellt, doch aufgepasst, er kann Ihnen gekonnt austricksen! Mal fehlt ein Fenstersims, mal wird eine Nase nur suggeriert oder mit dem Hintergrund verschmolzen. Ja, wer an der Akademie abstrakt anfing, dann realistisch-gegenständlich wurde und heute souverän von einer Bühne zur anderen wechselt, der ist nun mal köstlich unberechenbar. (Sie, Herr Wachter, als sein Professor an der Akademie, werden sich vielleicht daran erinnern, Tutilo als Student den Rat gegeben zu haben, doch mal wieder Naturstudien zu betreiben.Tutilo meint, als ihm keine weiteren klugen Erklärungen zu seinen abstrakten Arbeiten einfielen, folgte er diesen Rat.)

Tutilo hat mich ausdrücklich gebeten, in meiner Rede mit Lob zurück zu halten. Nun wissen Sie, liebe Zuhörer und Zuhörerinnen, dass ich nicht immer mein Ehemann gegenüber folgsam bin! Seiner Meinung nach, müsste er wesentlich mehr Kunst produzieren, und seine allseits berühmte Langsamkeit würde nur der eigenen Faulheit dienen. (O-Ton Tutilo, bei der Vorbereitung für diese Ausstellung: "Köpfe gehen gerade noch, solange Hände, Füße und Körper nicht dazu kommen.") Doch ein Lob auf die faule Langsamkeit! Noch werden Workaholics bewundert, aber das Blatt wendet sich. Und in den Märchen siegt der Igel über den Hasen.

Last not least, die entscheidenste Zutat, welche die Kunst von Tutilo Karcher so richtig lecker macht, wie die Belgier es ausdrücken: die Gabe, sich selbst nicht wichtig zu nehmen. Der Dichter Georg Peguy sagte, diese Fähigkeit allein ermöglichet es einem, gelegentlich über die Wahrheit zu stolpern. Und im Volksmund heißt es: Gott schenkt's den seinen im Schlaf.

Abschließend, damit die Stimmung hier nicht allzu heilig wird, ein Zitat von Karl Valentin: "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit." Und auf die Frage, was ihr Schreiben am meisten inspiriert hat, antwortete Dorothy Parker, berühmt-berüchtigte Journalistin der Goldenen Zwanzigern, knapp und präzise, "Geldmangel, Darling." Sehr verehrte Gäste, es ist mir eine Ehre hiermit die Ausstellung "Köpfe und Bäume" meines hoch geschätzten Kollegen und Ehemannes Tutilo Karcher zu eröffnen. Und im Namen von Tutilo und mir nochmals unseren allerliebsten Dank an Dorothee Bode, Galeristin und Hüterin der roten Punkte!

Candace Carter
16.Juni 2007







Bei der Eröffnung der Ausstellung "Gebärden, Candace Carter Malerei"
im Kunstverein Bretten am 20.Juni 2004, hielt Candace Carter folgende Rede:

Verehrter Herr Vorsitzende, lieber Dieter, verehrte Kunstfreunde, liebe Freunde,
ich freue mich, Sie heute morgen hier begrüßen zu dürfen. Nach dem eher mageren Ergebnis Deutschlands gestern auf dem grünen Rasen, dürfen wir uns in der Pause bis heute Abend einer anderen Muse widmen. Auch die Kunst ist ein Spiel, und mit den hier gezeigten Bildern "oute" ich mich endgültig: ich habe aufgehört, künstlerisch zu arbeiten! Als eingefleischte Workaholikerin (eine immer noch anerkannte Sucht, besonders in Deutschland), war ich früher ständig am Schaffen. Erhaschend nach Lob für Fleiß und Begabung, war ich auf der einen Seite auf die Erwartungen von Außen fixiert und auf der anderen heimlich verfolgt von dem Gefühl, nicht gut genug zu sein. Das schlechte Gewissen peitschte mich ständig zu immer höheren Leistungen. Unterbrechungen jeglicher Art, und sei es einen Besuch von guten Freunden oder einen schönen Ausflug, erlebte ich als bedrohliche Ablenkung. Ich rannte einen Fata morgana hinterher, lebte im Außen und tauschte echte Lebensfreude für schale Zwangsanerkennung ein.

Dann bekam ich ein Kind. Aus war es, mit morgens von 8-12 pflichtbewusst an der Staffelei stehen und nachmittags ebenfalls mindestens vier weitere Stunden. Unsere Tochter Sabeth rettete mich und zog mich wieder in das pralle Leben. Dies geschah einfach dadurch, dass sie ein Baby war und daher vollkommen unwiderstehlich. Langsam wurden andere Dinge wieder wichtig und bei der Geburt von Robert sogar das Kranksein des Kindes und die nötige Aufmerksamkeit für sein Überleben und Wohlergehen. Ich hatte keine Zeit mehr, das, was ich noch sporadisch am Vormittag malte dann am Nachmittag friemelnd zu zerstören. Und siehe da, die Bilder wurden besser, spontaner, entkrampfter! Unsere Kinder sind mir bis heute eine unglaubliche Quelle der Freude und der Inspiration. Gurus? Wozu bräuchte ich einen Guru? Ich habe Kinder !

Nun, durch das Eintreten der Kinder in meinem Leben war der Anfang getan. ich ließ die Vorbilder Vorbilder sein und bewegte mich auf unbekannten Terrain. Alte Arbeiten wurden zerschnippelt und zu neuen Kollagen zusammengesetzt, die Abstraktion nahm an Bedeutung zu. Die Figur aber, blieb Angelpunkt alle neuen Prozessen. Der weibliche Akt mit seinen schier unerschöpflichen Ausdrucksmöglichkeiten übt für mich heute die gleiche Faszination wie vor dreißig Jahren.
Neben den Kindern und ihren Geschenken benötigte ich aber eine weitere, noch tiefergreifende Lehre, um die Sucht des Gefallen-Wollens loszulassen. Sechs Jahre lang wurde mein Leben von einer völlig dichten Dunkelheit bestimmt. Der Alltag spielte sich am Abgrund ab. Und da es eben diese verbissene Widmung des Alltags war, die mich wieder hinausführte, malte ich ebenfalls in dieser Phase. Ein komisches Gefühl war es, das kann ich Ihnen versichern: wie im Wachkoma malte ich Bilder, die ich nicht spüren konnte. Aber, aus der späteren, wiederauferstandenen Perspektive betrachtet, stellte sich heraus, dass diese Bilder zwar nicht einfach anzuschauen waren, aber durchaus eigenwillig und kräftig daherkamen. Ich sehe das so: Es gab in der Zeit kein ich und kein Ego. Und gerade deswegen wurde eine tiefere Quelle in mir wach und konnte wirken.

Die Erfahrungen der dunklen Jahren leiteten eine gänzlich Neuorientierung ein. Am Anfang sagte ich, dass ich nicht mehr künstlerisch arbeite. Nein, Arbeiten beschreibt wirklich nicht die neue Vorgehungsweise, das Wort greift viel zu kurz. Lustvoll spielen oder etwas einüben könnte man sagen Sich einüben, den Geschmack des Kaffees beim Frühstuck wirklich zu schmecken, einüben, den Geruch des Katzenklos in ihrer Intensität zu riechen, einüben zu Stehen, zu Gehen, zu Warten und zu Horchen...

"The Present is a present" -die Gegenwart ist ein Geschenk- habe ich im englischen Vorwort zu meiner Website geschrieben. In der Gegenwart zu verweilen, in mir und bei mir, bedeutet immer öfters die Signale und Wegweiser wahrzunehmen, die mich umgeben. Damit sie aber ins Fleisch und Blut übergehen können, muss und darf ich endlich mein Suchtverhalten, alles in Griff zu haben zu müssen, aufgeben. Chaos ist nur ein Wort für noch nicht-definierbare Ordnung. Es zu begegnen bedarf Mut und Vertrauen. Und so paradox es auch klingt, ist Vertrauen nur der Anfang. Denn letztendlich geht es um blindes Vertrauen: ja, es ist genug da, oder noch wichtiger, ja, ich bin genug, ich genüge mir. Also übe ich mich auch im Vertrauen, und dazu ist das Malen eine göttliche Gelegenheit: Ich horche auf die Bilder und auf den Dialog mit ihnen. Natürlich verrenne ich mich noch und will UNBEDINGT noch weiter friemeln. Dann kann es passieren, das jemand vor der Tür steht, das Telefon klingelt oder ich mich in den Finger schneide. Ich füge mich den Wink und höre dann sofort auf zu arbeiten. Ob ein Freund vorbeischaut, die Katzen Futter brauchen oder ich endlich den dreckigen Waschbecken putzen muss: ein Lob auf die Seligkeit, die Herrlichkeit die Dämlichkeit aller Arten von Störungen ! Denn Störungen unterbinden immer meine Kontrollsucht und öffnen neue Perspektiven. Und, ich habe nämlich den Vertrag unterschrieben: ich will die Fülle. Deswegen dürfen es keine positive und negative Kategorien mehr geben, höchsten angenehme und unangenehme. Als Mini- Zauber-Lehrling komme ich die mystische Weisheit von Meister Eckerhart ein Stückchen näher: Sumber warumbe: ohne Warum. Ein Leben ohne Erwartungen, sinn-los aber durchaus sinnlich, denn jenseits der Bewertung erwartet uns nur die Gnade, nur das Geschenk.

Ohne rot zu werde kann ich Ihnen verraten: ich liebe die Frauen hier an den Wänden, und es bereitete mir einen Mordsspaß, sie zu malen. Wie die Gemälde in Hogwarths, sind sie buchstäblich lebenssprühend auf die Leinwänden herumgehüpft und haben mir genau gesagt, wo es längst gehen sollte. Sie haben sogar bestimmt, wo und neben wem sie hängen möchten. Und, sie sind auch das Produkt eines Geschenks. Vor einem Jahr traf ich auf einer Tagung den Maler Hans Peter Reuter. Kachel-Reuter sagen wir Kollegen zu Ihnen, denn seine Berühmtheit beruht auf seine geheimnisvolle blaue Kacheln. Zurecht übrigens, wenn Sie mich fragen, denn ich spüre die innere Spannung und Kraft bei jeder Kachel. Reuter liebt das, was er tut, und er ist ein freundlicher und keineswegs eingebildeter Zeitgenosse. " Erzähl," habe ich ihn gefragt, "Deine Bilder sind riesig und müssen ungeheuer schwer sein. Wie machst Du das?" " Styrodur," antwortete der Meister grinsend. "Wie bitte," fragte ich erstaunt. "Geh zu Bauhaus und besorg Dir Styrodur-Platten. Keine Angst, die Farbe bebt, ich male seit 30 Jahren darauf. Die fertige Bilder sind total leicht und können mit feinen Stiften einfach an die Wand gepickt werden!" Gesagt, getan. Auch dieser Tipp veränderte meine Malerei. Ich liebe diese leichte Platten und meine Schulterarthrose liebt sie auch. Und, ich kann spontan und nach Lust und Laune loslegen, denn eine Vorgrundierung ist nicht notwendig. Die Platten haben auch eine angenehme grüne Färbung, ideal für Hauttöne. Die Bilder stehen dann für sich und benötigen keine ablenkende Rahmung. Nun, natürlich sind Styrudur-Platten nicht 100 % stoßfest. Aber für mich ist die Kunst immer ein weitergehender Prozess, offen für Veränderungen. Ich gebe einfach jedem, der ein Bild auf Styropor erwirbt, einen "lifetime guarantee". Bringen Sie mir das Bild wieder, falls eine Ecke abgebrochen ist. Ich werde dann die Ecke neu ankleben oder noch besser, das Bild aus dieser Veränderung heraus neu konzipieren. HansPeter-ich danke Dir und ich widme Dir diese Ausstellung!

Back to the prozess: Beim Malen dieser Bilderserie gab es zwischendurch ganze Wochen, in den ich nicht ins Atelier kam. Da aber letztendlich in meinem sonstigen Leben sich kaum etwas anders abspielt als an der Staffelei fiel es nicht ins Gewicht. Daher konnte es sein, dass ich dann doch, voll Freude und Erwartung, spontan hochging und in zwei Stunden alles in die Ecke malte. Falls das alte Muster " Herrgott noch mal, nun geh doch endlich wieder ins Atelier!" mich plagte, konnte das Gegenteil passieren: Ich bestieg schuldbewusst die Treppen hinauf und begegnete im Atelier lauter steife und stumme Damen. Nach einer viertel Stunde kapitulierte ich freiwillig und ging Unkraut jäten. Übrigens, eine Tätigkeit, die ich besonders schätze, da sie erdet und furchtlos macht. In manchen buddhistischen Klöstern werden Aspiranten die Aufgabe gegeben, mit Hilfe einer kleinen Pinzette, einen Quadratmeter von Unkraut überwucherten Blumenbeet zu säubern. Vorgestern bin ich vier Stunden auf die Knien herumgerutscht und habe mit der Küchenschere das inzwischen Meter hohen Gras um meinen Beeten beschnippelt. Eine wichtige Vorübung: geerdet sammelte ich gestern alle Mosaiksteinchen und Gedankenfetzen der letzten Wochen zusammen für diese Rede, furchtlos ließ ich die grammatischen Fehler stehen.
Manche höre ich sagen, dass es unmögliche, unangenehme Dinge im Leben gibt, die wir alle irgendwie mit verbissener Miene durchstehen müssen: die Steuer machen, z.B., oder den Schreibtisch entrümpeln. Meine Achillesfersen ist Putzen, aber, wie beim Malen, kann das richtige Timing sowie die Neugier, was ich dabei alles entdecken könnte, sowohl in mich und um mich, als Antriebskraft tausendmal besser dienen als die Angst, was eventuelle Besucher zu meinen Saustall sagen können. Wie ich es vorhin erwähnte, mein sehnlichster Wunsch war schon immer, soviel Fülle zu erfahren wie möglich. Aber, wer A sagt muss auch B sagen, und schwimmen wollen bedeutet auch nass werden. In other words, you take what you get. Eine Migräne ist auch eine Erfahrung, oder? und kann durchaus bewusstseinserweiternd sich auswirken. Sie erlaubt mir, z.B., mehr Dialog, mehr Austausch, ja, mehr Mitgefühl mit anderen Migräneerfahrenen. Ein anderes Beispiel: das alte Muster sagt: "Das Bild ist nicht fertig. Schau mal den Gesichtsausdruck an ! So kannst Du es unmöglich lassen !" Seit einiger Zeit und immer häufiger aber, hält mein Pinsel wie von selbst inne. Ich gehe dann instinktiv einen Schritt zurück und widerstehe den Drang, noch an einem Bild herumzufummeln. Überhaupt steht manches Kopf im Vergleich zu früher. Beim Malen lasse ich gerne den großen Zusammenhang wegschwimmen und schaue bewusst nur auf die Stelle, die ich gerade male, oder ich nehme ohne Überlegung eine Farbe und male weiter oder ich stelle das Bild auf dem Kopf und suche erneut eine isolierte Stelle. Es kann z.B. sein, dass die Schrift sofort auf die Leinwand will oder mir mitten in der Nacht einfällt. Früher konnte ich nur nach Modell arbeiten, heute kommen die meisten Figuren aus meinem Inneren.

Gebärden, sich gebärden, Gebärdemutter, Gebärmutter, gebären, bären, bären, bärenstark, bärte, barde, Barde, bürden, bohren... Worten und Wortfetzen sind lustige Erkenntnisquellen. Ähnlich die Zeichenstriche, verästeln und verbahnen sie sich einen Weg und können ebenfalls umschreiben oder umranden. Aber Vorsicht, kein Lechzen nach der klaren Botschaft bei der Erstbegegnung ,den solchen Texten haben ihr eigenes Tempo und Zeitgefühl und sind nur mit Herzensintelligenz entschlüsselbar! Schreiben Sie zum Beispiel einen Text auf oder lesen Sie ihn laut, vorwärts und rückwärts, oder im Laufen. Suchen Sie die Lieblingswörter raus oder spinnen Sie den Text für sich weiter. Schmeißen Sie den Text dann in eine Ecke, in der er lange schmort und brachliegt, bis Sie ihn "zufällig" eines Tages wiederentdecken und er sich Ihnen öffnet. Bilder, Wörter, Gebärden, Begegnungen-Offenbarungen gibt es, wo Sie gehen und stehen, ob am Strand in Tunesien, im Stau sitzend, oder an der Kasse bei Aldi. Es ist alles da, greifbar nah und es genügt. You have everything you need. Und you yourself are sufficient. Sunder warumbe: ohne Warum.

Der vor kurzem verstorbenen Maler Werner Tübke formulierte es so:
"Ich nehme mir nichts vor. Ich male, wie der Vogel singt."

Zum Schluss möchte ich mich bei meinen Assistent bei der Ausarbeitung dieser Rede bedanken. Er ist kein anderer als unserer neuen Familienmitglied, der Baby-Kater Friedrich von Seltz, genannt Fritz Barcadi. Während ich schrieb, tobte und purzelte er in einer unnachahmlichen Tierkomik um mich herum und schaffte herrliches, lebendiges Chaos. Ab und zu sprang er sogar auf die Tasten meines Kombi und schrieb mit. Die Botschaft von Fritz hört sich folgendermaßen an:

GGGGGGGGGGGGGGGGGG   SSSSSSSSSSSSSSSSSSS
PPPPPPPPPPPPPPPPP   VVVVVVVVVVVV   TTTTTTTTTT !!!

Thanks, Fritz, you said it all!

Zum Download der Rede hier klicken! (RedeGebaerden.zip 8,68 KB)






Aus: Mit Leid umgehen: Dokumentationsband des Sechsten
Würzburger Religionspädagogischen Symposiums, Hrsg.
Gottfried Adam, Roland Kollmann und Annebelle Pithan,
Münster 1998

CHAOS, KREATIVITDT UND KÖRPER:
ÜBER DAS PHYSISCHE VERGNÜGEN DAS UNMÖGLICHE
ZU BERÜHREN
Candace Carter


HINGABE UND MACHT

Hingabe ist das Verhalten, das wir Menschen am stärksten vermeiden, aber ebenso das Verhalten, das unserer wahren Natur auf den Leibgeschrieben ist. Es gibt eine Selbstauslieferung, die freimacht: die Auslieferung an die sinnlose, morallose und zwecklose Gnade. Bedingungslosigkeit aber beinhaltet gleichzeitig das Loslassen vom Vertrauten, und die Hinwendung zum dunklen Unbekannten. Sie schlieft, wie Dorothee Sölle es in "Mystik und Wider stand" beschreibt, die Konfrontation mit der lebensfeindlichen Macht ein, entzweit und verbindet neu : "Er ist ein unumkehrbarer Schritt, den wir um den Preis des Selbstverrats vergessen oder zurücknehmen können." Der Mensch, der das Labyrinth der Weltmutig durchschreitet und ins Zentrum ankommt, wird dort von Gottverschlungen und vollkommenneu strukturiert. ("Seht, ich mache alles neu." Offb. 21,5)

Im Labyrinth besteht nicht die Möglichkeit des Falsch gehens, sehr wohl aber die des Nichtgehens. Gehen ist Fluss, Prozess, Hinbewegung, ist die Dehnung, die Atmung, die leibhaftige Teilnahme am "Alles spricht, alles hat eine Botschaft". Aber sogar das Nichtgehen kann dienen. Simone Weil meinte, dass der Augenblick des seelischen und intellektuellen Stillstandes allein den Menschen zum Übernatürlichen befähigt: "Wer einen Augenblick der Leere erträgt, erhält entweder das Über natürliche Brot oder bricht zusammen." Denn "die Wahrheit lieben, heißt die Leere ertragen und also den Tod hinnehmen. Die Wahrheit ist auf Seiten des Todes." "Gut", sagt sie auch, "ist, was Menschen und Dingen ein Mehr an Wirklichkeit gibt, böse, was es ihnen nimmt." In Körpersprache übersetzt, werden das Loslassen und die Öffnung der Kontraktion gegen übergestellt. Soziologischgesehen spiegelt die dualistisch patriarchalische Gesellschaftsordnung die kontrastierte, "lebensfeindliche Macht" wider, mit der der sich hingebende Mensch konfrontiert wird.

Erfahrungen in Tiefenprozessen, in der Meditation, mit der Erotik, mit dem Leiden oder mit der Kunst können Wege aus der Kontraktion zeigen. Die Kunst, zum Beispiel, ist an der Pforte zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren angesiedelt. Ausschauhaltend nacheiner sinnlichen Entsprechung für das Unaussprechliche, sind Künstler tagtäglich konfrontiert mit Paradoxen. Ihre "Produkte" sind eine Mixtur aus Warten, Handeln und Wirkenslassen. Je authentischer ihr schöpferischer Prozess, desto mehr dienen ihnen die Werkzeuge des Chaotischen, des Intuitiven. Der eigenen Ohnmacht oft gegenübergestellt, sind sie aber gleichzeitig hoffnungslos geköderte Suchende, von dem "Aufblitzen der Wahrheit" magisch Angezogene. Der Künstler, die Künstlerin, bewegt sich dort, wo das Gelände aufhört, den Preis der Ausgrenzung, der Armut, der Internierung und sogar des Todes riskierend. Künstler erleben die demaskierte Wirklichkeit von Abgrund bis Ekstase, aber dieses "Glück" kann einsam machen, da sie in einer von Gewalt, Macht und Dogmen strukturierten Welt selten ein Gegenüber finden.

DILEMMA DER BEGEGNUNG VON SELBST UND WELT

Die Geschichte aller Völker und Zeiten zeigte immer eine Verwandtschaft zwischen Künstler, Heiligen, Behinderten und/oder Wahnsinnigen. Ob weise oder hysterische Frauen, Schamane oder Derwische, Beginen oder Dorftrottel, alle befanden sich unmittelbar dem Dilemma von Selbst und Welt gegenübergestellt. Ihre Wildheit und Weisheit bedeuteten Gefahren für jedes festgeschnürte System. Schwer einzubinden in, Preis-Leistungs-Verhältnisse, aber mit durchaus begehrenswerten Kräften begnadet, galt und gilt die Devise, sie soweit wie möglich als Ressourcen auszubeuten ("Man kann nur die wirklich bestehlen, die magisch leben ...", Ingeborg Bachmann). Alles, was nicht zu domestizieren war, wurde zerstört, verharmlost und, vor allem, unsichtbar gemacht. ("Manch einer wäre einem solchen Ernährer zumindest dankbar und würde die arme, ihres Genies beraubte Frau irgendwie entschuldigen: Nein! Ins Irrenhaus! Nicht einmal das Recht auf eine Wohnung! Weil ich mich zu ihrer Verfügung halten muss! Das ist die Ausbeutung der Frau, die Vernichtung der Künstlerin, die man in den Schwitzkasten nimmt, bis aufs Blut (...). Sie sagten: 'Wir benützen eine Halluzinantin, um unsere Sujets zu finden.." [Camille Claudel])"

Vergleichbar der Camille ist die Krankheitsgeschichte von Bertha Pappenheim, bekannt zur Zeit Freuds als der Hysterie-Fall "Anna O", geschildert in dem Buch "WahnsinnsFrauen": "Hier wird das Drama der Anna 0. offenkundig. Ihre Erkrankung ist die Folge ihrer ständigen, übermäßigen Anstrengung, sich an das Frauenideal anzupassen, das Selbstverleugnung und Bedürfnislosigkeit verlangte (...). Es handelte sich um eine Ausweglosigkeit, weil sie einerseits die gesellschaftlichen Normen selbst stark verinnerlicht hatte und weil andererseits die gesellschaftlichen Normen von außen ständig an sie herangetragen wurden. Zwischen Psychostruktur und gesellschaftlicher Struktur steht der subjektive Körper, der sozusagen auf die innere und äußere Ausweglosigkeit reagiert und diese darstellt. Bei dem Versuch, Anna O.'s physische Symptome zu interpretieren, fällt auf, dass alle Symptome auf eine Verweigerung der gängi- gen Kommunikation mit der Umwelt hindeuten (...). Anna O.'s Rebellion richtete sich gegen die Welt und gegen sich selbst, ihre Sinne rebellierten. Ihr Körper, ihre Sinne sind die Bühne für das Theater der Unterdrückung."

Ähnlich den psychisch Kranken verläuft das Leiden des Einzelnen durch aufgesetzte Normen bei sogenannten Behinderten. Die Ursache für Autismus beispielsweise ist umstritten. Fest steht, dass die Art, wie Autisten die Welt erfahren, auch zur Ausgrenzung und Abwertung führt. "Das Abstrakte und Kategorieelle ist für Autisten nicht von Interesse," schreibt der amerikanische Neurologe Oliver Sacks in seinem bekannten Buch "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte". Und weiter: "Ihr Augenmerk gilt ausschließlich dem Konkreten, dem Besonderen, dem Einzigartigen. Dieses ist immer wieder auffallend, ganz gleichgültig, ob es für den jeweiligen Patienten eine Frage der Fähigkeit oder der Neigung ist. Da sie das Allgemeine nicht sehen können oder wollen, scheint das Weltbild von Autisten ausschließlich auf der Beobachtung von Besonderheiten zu beruhen. Sie leben also nicht in einem Universum, sondern in einem Multiversum, das aus unzähligen, genau erfassten und mit einer leidenschaftlichen Intensität erlebten Einzelheiten besteht. [Vergleich Ingeborg Bachmann: "Für mich hat alles Bedeutung."] Diese Art zu denken steht im krassen Gegensatz zur verallgemeinernden-wissenschaftlichen Denkweise. Dennoch ist sie, wenn auch auf ganz andere Art, ebenso 'real' wie diese."

ERWEITERTE WAHRNEHMUNG

Zum Thema andere bzw. erweiterte Wahrnehmung und ihre "reale" Wirklichkeit können wir von Künstlern, Wahnsinnigen, Heiligen und Behinderten entscheidendes erfahren. Einstein vermutete, dass die Felder der Gravitation, der Elektromagnetik bzw. der Quantenmaterie ein und demselben Grundfeld entsprachen. Ausgehend von der Hypothese, dass die Energien der angesprochenen Gruppen auch ein und dasselbe Grundfeld widerspiegeln, bleibt die Frage nach der Ausrichtung dieser Schwingungen. Sofort werden die meisten denken, der Künstler, die Künstlerin hat immerhin die Möglichkeit des Ausdrucks. Alice Miller behauptet, wir alle seien Schmarotzer des bedingungslosen Drangs der Künstler, ihre Lebensintensität in Musik, Literatur oder Malerei umzusetzen. Aber der Verlust an menschlicher Wärme, an Intimität und Öffentlichkeit, der häufig zum Scheitern und Tod bei Künstlern führt, relativiert schleunigst den sogenannten "Vorteil" gegenüber den anderen erwähnten Gruppen.

Spannend wird die Frage natürlich bei Mischformen: Hildegard von Bingen und Marilyn Monroe waren beide charismatische, erotische und schöpferisch begabte Frauen, die jede auf ihre Art den abgesteckten Rahmen ihrer Zeit sprengten und eine nachhaltige Faszination auf die Menschen ausüben. Marilyn gab sich schutzlos der Welt hin, wal1rend Hildegard sich zuerst Gott hingab und danach der Welt. Die erste erlebte sich selbst als Opfer und erfuhr ihre eigene Vernichtung. Für die "Seherin am Rhein" spielte die Möglichkeit der Vernichtung ihrer Person eine untergeordnete Rolle, denn sie lebte in einem anhaltenden Liebesverhältnis mit dem Unbekannten. Dadurch war Hildegard wesentlich durchlässiger als "Medium" für freifließende Energien, und darauf kommt es an. Aber in der Konfrontation mit der "lebensfeindlichen Macht" lösten die Schwingungen beider Frauen die gleiche Reaktion aus: den Wunsch, sie zu vereinnahmen oder sie zu vernichten. Bei weisen, wahnsinnigen und künstlerischen Menschen vernetzen sich Tun-können, Tun-wollen und Tun-müssen so extrem, dass sie uns ständig zwingen, irritieren, aber auch locken und inspirieren. Allen Risiken zum Trotz: Mit ihnen in Beziehung zu treten, kann bewirken, dass dasselbe, in uns verdrängte "Grundfeld" wieder lebendig wird und die Energien beidseitig frei fließen. Von dieser Sicht aus wird die Frage, wer wem "hilft", wohltuend relativiert, gerade was die Einstellung zu Behinderten und psychisch Kranken angeht. Wir aufgeklärten Christen und Humanisten sind pausenlos damit beschäftigt, was wir tun können, um diese "Benachteiligten" in unsere Welt zu integrieren- Häuslich eingerichtet im co-abhängigen Helfer-Syndrom und zugeschüttet mit seelischen Kochrezepten, Regenbögen und Reihentänzen können wir erfolgreich jegliche echte Annäherung abwehren. Kranke und Behinderte versorgen wir, Künstler und Heilige bewundern wir. (Bewunderung ist nur eine weitere Variante der Vermeidung.)

Aber der Preis für die Vermeidung ist die Selbstaufgabe. Das Festhalten an Normen, Sachzwängen und liebgewonnenen Illusionen macht uns zu Komplizen der Macht. Das Loslassen von Gewohntem und das sich einem "dunklen Unbekannten" anvertrauen verlangt wirklich Mut, denn zuerst erlebt jeder und jede, der/ die diesen Schritt wagt, sich selber als Teil der schreienden, sterbenden und bezwungenen Natur. Aber eben an diesem Punkt der Ohnmacht entsteht Raum für Veränderung. Bert Hellinger, gefragt nach dem Geheimnis seiner Stärke und seiner Erfolge in der Familientherapie, antwortete: "Mir ist die Welt recht, wie sie ist, auch das Entsetzliche. Ich kann dem zustimmen, wie es ist. Der Schrecken kann einen nur überwältigen, wenn man wegschaut. Alles Große zieht seine Kraft aus dem Entsetzlichen, und wer da wegschaut, der landet im Wolkenkuckucksheim." Josef Beuys äußerte sich zu dem, was in der Welt "wirkt": "Es wäre eine große Frage, wer die Welt mehr bereicherte, die Aktiven oder diejenigen, die leiden. Ich habe ja immer entschieden: die Leidenden. Der Aktive mag Unermessliches für die Welt erreichen. Aber ein krankes Kind, das sein Leben lang im Bett liegt und gar nichts tun kann, das leidet, und erfüllt durch sein Leiden die Welt mit christlicher Sub- stanz. Denn durch das Leiden wird die Welt real mit christlicher Substanz." Meine Freundin sprach über ihre schwerstbehinderte Tochter: "Die Caroline zwingt alle, die mit ihr in Berührung kommen, sie so zu nehmen, wie sie ist. Sie kann man weder manipulieren noch bestechen noch ihr ausweichen. Aber dadurch zieht sie fast alle in ihren Bann. Kaum jemand kann ihr widerstehen."

Eine gesteigerte Sicht dieser Wahrnehmung finden wir in dem wunderbaren kleinen Traktat von Heinrich von Kleist "Über das Marionettentheater". Im Zwiegespräch plädiert der Hauptprotagonist für die Vorteile der Grazie bei einer Marionette dem lebendigen Tänzer gegenüber: "Der Vorteil? Zuvörderst ein negativer, mein vortrefflicher Freund, nämlich dieser, dass sie sich niemals zierte. Denn Ziererei erscheint, wie Sie wissen, wenn sich die Seele in irgend einem anderen Punkt befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung. Wir sehen, dass in dem Maße, als in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. Doch so, wie sich der Durchschnitt zweier Linien, auf der einen Seite eines Punkts, nach dem Durchgang durch das Unendliche, plötzlich wieder auf der andern Seite ein- findet, oder das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt, so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so dass sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins oder ein unendliches Bewusstsein hat, d.h. in dem Gliedermann oder in dem Gott. Mit- hin, sagte ich ein wenig zerstreut, müssten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? -alleedings, antwortete er; das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt (...) Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von 11inten irgendwo wieder offen ist." Die Begegnung mit Leidenden, wie die mit der Kunst, der Natur, der Freude oder mit einem Selbst, ist eine der göttlichen Hintertüren zum Paradies."

LEID UND VERWANDLUNG

An dieser Stelle möchte ich in aller Deutlichkeit klarstellen, dass es mir nicht um eine rührselige Aussage "Behinderte haben auc11 etwas" geht und noch weniger um eine Verharmlosung des tagtäglichen tapferen Einsatzes von Menschen, die behinderte Menschen betreuen und auch politisch um ihr Recht auf Intimität und Öffentlichkeit kämpfen. Gerade aber, weil es unseren Alltag transformiert, plädiere ich dafür, den Blickwinkel zum Wesentlichen hin zu "verrücken". Das, worum es mir geht, ist die heilende und rettende Bedeutung der kosmischen Präsenz von leidenden, behinderten oder wahnsinnigen Menschen in der Welt, sozusagen um ihre phänomenologische Identität: Meine Bereitschaft, mit ihrer physischen Gegenwart in Beziehung zu treten, bedeutet, das Mysterium Johannes 19, 37 leibhaftig zu erfühlen: "Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben." Und indem ich in dieser Haltung einem leidenden Menschen gegen- übertrete, signalisiere ich ihm wiederum die Anerkennung seiner Würde, seiner Größe und seiner Berufung. Mit anderen Worten, ich bitte ihn um seinen Segen. An diesem, wie Kleist es beschreibt, "Durchschnitt zweier Linien" kann Heil entstehen. Künstler, Priester oder Schamaninnen bedienen sich dieser Zeichenhaftigkeit. Der kranke, behinderte oder wahnsinnige Mensch ist die Zeichenhaftigkeit.

Und die Heiligen, die Weisen, die Seher und Prophetinnen? Sind sie nicht auch gott- trunkene Besessene, Zeichen des gottgewirkten Wahnsinns? Wer, laut Sölle, wie Franziskus, nichts zwischen sich und der Nacktheit Christi haben wollte und radikal alles ausräumte, was ihn vor den Wunden der Liebe schützen könnte, ist das lebendige Sinn- bild der Hingabe. Die Teilnahme an dieser Nähe schließt Krankheit und Leiden nicht aus. Auch für Franziskus war die Bühne für das Geschehen der Körper, bis hin zu Stigmata. Und hier berühren wir den Salto vitale des göttlichen Wahnsinns: Franziskus lehrt uns, die "permeated borders", die durchlässigen Grenzen, eines unmöglichen sinnlosen liebenden Schöpfers zuzulassen. Denn er "entblößt sich, um unmittelbar die Schönheit der Welt zu berühren", schrieb Simone Weil, und für Weil bedeutete Schönheit reale Gottesgegenwart.

Zum Thema Kunst und das Schöne behauptete der DDR- Kunstwissenschaftler Walter Besenbruch in den fünfziger Jahren, alle echte künstlerische Tätigkeit sei Erzeugung von Schönem, und dass das Kunstwerk deshalb zur Form gewordene, mit Sinnen fassbar gewordene Wahrheit sei. Auch Simone Weil riet, sich den Symbolen und Bildern der Kunst nicht rational, sondern schauend und intuitiv zu nähern: "Nicht versuchen, sie auszudeuten, sondern sie anzuschauen, bis Licht hervor- bricht." So erfal1ren ist die Schönheit Kraftquelle und Energiefeld, den herkömmlichen Begriff "entgrenzend". Sie durch die Macht, Verzweiflung und Angst der sichtbaren Welt hindurch zu erspüren, bedeutet, lebendig zu sein. Denn: "Verachtet darf diese Welt nicht werden, auch wenn sie nicht als das Absolute begriffen werden kam. Ihre wahre Würde kommt zum Vorschein, wenn sie ganz durchlässig wird. Diese Welt ist die geschlossene Pforte. Sie ist eine Schranke und zugleich der Durchgang." (Simone Weil)

SINNLICHE INTELLIGENZ UND ERFAHRUNGSORT KÖRPER

Welche Erfahrungen und Erlebnisse locken uns zur Hingabe, zum Stillstand, zur Bejahung unserer zweiten, sinnlichen Intelligenz? Wie können die Sehnsüchte nach Lebendigkeit größer werden als die Angst, kann der Raum in uns wachsen, der lustvoll "kontempliert" werden möchte, bewohnt von den Schwingungen, Energien und freundlichen Mächten? Denn auch das gehört zum Paradoxen eines zwecklos liebenden Gott, dass, in einer Welt voller Leid das Glück uns nicht nur besuchen, sondern bewohnen will. Auf die Frage des Vizekönigs an Dona Musica in Claudels "Der Seidene Schuh", ob sie glaube, dass Freude etwas sei, das man so hinschenke und unverwandelt wiederfinde, antwortet sie: "Freude beherrschen wir nicht, die Freude beherrscht uns. Hast du einmal Ordnung und Licht in dich selber gebracht, dich fähig gemacht, von ihr erfasst zu werden, dann kommt sie zu dir und umfasst dich." Claudel will uns hier nicht in Ganzheits-Stress stürzen. Ihm geht es um die innere Bereitschaft, die wiederum die sinnlichen Poren öffnet. Wenn wir das Wichtige pflegen, finden wir unabsichtlich dorthin, wo die Freude uns empfängt.

Die Freude ist die Öffnung, das "Mehr an Wirklichkeit", die sich selbst nicht genügt, sondern in Beziehung tritt: "Die Freude," sagt Dona Musica weiter zu ihrem geliebten Vizekönig, "die du mir schenkst, die sollst du erblicken auf dem Gesicht der anderen." Musicas Antwort umfasst die Weisheit und Heilkraft der Freude schlechthin: Sie so überschäumend und grenzenlos zu umarmen, heißt, sie bedingungslos und besinnungslos weiterzuverschleudern: "Sunder warumbe" - ohne Warum -no strings attached. Das Mysterium der kosmischen Substanz von Freude, Schönheit und Liebe liegt in ihrer unendlichen Fähigkeit der Vermehrung - wie das Brot, wie die Lilien auf den Feldern.

Freude, Glück und Befreiung erspüren wir am selben Ort wie das Leiden - im Kör- per. Konditionierung und Erziehung führen dazu, dass wir sie ebenfalls ausklammern. Die häusliche Einrichtung unserer lauwarmen Lebendigkeit ist ausgestattet mit Konsumablenkungen, oberflächlichen Freiheiten und eine Prise Engagement. Alle Einfallstore in eine andere Wirklichkeit, die der Alltag uns ständig anbietet, werden erfolgreich abgeschottet. Aber die Erfahrung zeigt, dass der Körper nicht so schnell auszutricksen ist wie der Verstand. Er speichert in seinem vegetativen System, in den Muskeln und im Gewebe die Wahrheit dieses Betrugs und strahlt ständig Warnsignale und Hilferufe in Form von Krankheiten aus. Die heilenden Aspekte dieses tapferen Berührens des Körpers, unserer Selbstaufgabe zu entrinnen, werden meistens übersehen: und überhört. Da aber der Körper, wie der Künstler, der Heilige oder der Wahnsinnige, die unverfälschte Schönheit begehrt und ebenso unbestechlich ist, bleibt er der zuverlässlichste Partner auf dem Weg zur Lebendigkeit.

Die persönliche Transformation ermöglicht dem eigenen Körper in der gleichen anbetenden Haltung gegenüberzutreten wie dem Nächsten; was die Erfahrung von Selbstliebe bedeutet. Selbsterfahrung als Gotteserfahrung befreit im Körper die Freude, die nichts anderes kann, als sich weiterzuverschenken. Ich erlebe mich als Königskind, das, nach Meister Eckart, "nicht zum Kleinen geschaffen wurde". Und dieses "Sich-Öffnen" führt unweigerlich zur Öffentlichkeit. Fulbert Steffensky trifft den Kern der Dinge in seinem Referat an der Stelle, an der er behauptet, dass der Mensch nur sein kann, wenn er öffentlich sein kann. "Sprich, damit ich dich sehe!" sagt Hamann, ein Zeitgenosse Kants. In der Körperarbeit lernt jede und jeder, mehr Raum einzunehmen, sich zu dehnen und zu vermehren, statt zu verschwinden. Und wie wichtig ist dieser Ansatz gerade für behinderte Menschen! Die Betreuung von Menschen mit Behinderungen darf nicht bedeuten, sie zu unterhalten und unsichtbar zu machen, sondern sie zu würdigen und ihren eigenen Prozess der Selbstfindung und Anerkennung zu fördern, der ihre Präsenz in der Welt vergrößert. Bestimmte Gruppen von Menschen abzusondern bzw. abzuschotten ist zudem eine ungeheuerliche Verarmung der Welt, weil anderen die Möglichkeit entzogen wird, Ängste und Vorurteile, die durch fehlende Berührungen und Kontakte entstanden sind, zu überwinden.

Menschen mit Behinderungen öffnen sich, wie wir alle, zuerst im geschützten, liebe- vollen Raum, aber auch hier heißt die Devise, diesen Raum größer und breiter "in die Welt" auszudehnen. Franziskus war öffentlich. Es ging ihm nie um eine "ziellose und sich selbst genießende Askese", schreibt Sölle, sondern er "inszeniert öffentlich immer wieder neu das, was eigentlich gelten soll (...) das Niederhauen der Grenzen, die auf der Besessenheit vom Besitz errichtet sind". Auch die Aussätzigen wollte Franziskus vom Ausschluss der Nichtdazugehörigen befreien. Er tauchte immer wieder in den "Teig der Menschheit" (Simone Weil) und betrachtete "Konventionsbrüche als Zeichen der Zärtlichkeit zu allen" (Dorothee Sölle). Franziskus' Pflicht zur Hingabe löste, wie bei Hildegard von Bingen, starke Energien aus.

KÖRPER-ARBEIT

Zurück zum Herzstück unseres Dilemmas und dem Drama der Begegnung von Selbst und Welt: Das ist, wenn, wie Kleist es ausdrückt, die Seele sich in irgend einem anderen Punkt befindet als in dem Schwerpunkt der Bewegung. Lernen, aus dem Schwerpunkt der Bewegung zu handeln, ist das Geschenk des körpertherapeutischen Ansatzes. Organisch-vegetatives Tun übersteigt das Handeln aus dem Ego-Verstand und ermöglicht das "in Beziehung treten" mit der Schönheit in allem. Nach Weil überbrückt die Schönheit die Kluft zwischen dem "Natürlichen" und der "Übernatur": "Schönheit, reine Freude, Zustimmung von Körper und natürlichem Teil der Seele zur Fähigkeit des übernatürlichen Einverständnisses. Unverzichtbar, auch für jene, deren Berufung das Kreuz ist." Die universelle Quelle in Körper, der Sitz der Schönheit, ist erspürbar. Bewegung, Atmung, Stimme und tiefere Wahrnehmung unserer Sinne lehren uns auf der intuitiven Ebene Aufmerksamkeit, Präsenz und Partizipation wie auch das Horchen auf den "inneren Arzt". Die amerikanische Therapeutin Anne Wilson Schaef schreibt: "Als die Arbeit, die ich tat, immer eigenständiger wurde, ereignete sich in meinem Beisein das Heilungsgeschehen, das ich nie für möglich gehalten hätte, und ich war kein not- wendiger Faktor bei diesen Heilungen (...) Mir wurde allmählich immer deutlicher, dass dem menschlichen Organismus tatsächlich ein Prozess innewohnt, der sich auf alles, was im Laufe eines Lebens geschehen ist, heilend auswirken kann (...) Ich muss nur präsent sein und Anteil nehmen, indem ich vermittele, was in mir selbst vorgeht."

Für die Körperarbeit gilt: "Es gibt viel zu tun -lassen wir es los", wie auch "Es gibt nichts zu tun --packen wir es an". Warten ist ein integraler Bestandteil jedes schöpferischen Prozesses und eröffnet das echte "Sehen" im Sinne von "Grundstrukturen schauen" und ihnen entsprechen. Eine einfache Übung, wie etwa die Aufmerksamkeit ~ auf eine Bewegung oder auf einen Reflex im Körper zu lenken, kann Erstaunliches aus- lösen. Ich kann am eigenen Körper erfahren, wie es ist, sich selber auspendeln zu lassen, bis zum Punkt des Stillstandes, an dem das "übernatürliche Brot" den Impuls zum Handeln bzw. zur Veränderung eingibt. Das Erlernen von passivem Handeln und aktivem Warten schützt einen in der Körperarbeit vor dem Mechanismus des Helfer-Syndroms. Das sicherste Zeichen, aus der intuitiven Mitte zu wirken, ist - bei aller Ernsthaftigkeit und Schwere der Arbeit - das Gefühl, von heiterer Leichtigkeit, von Energiekreislauf. Leichtigkeit wiederum ist das Tor für das Mitwirken vom Chaos. Chaos ist das Nichts, aus der die Materie sich immer wieder neu bildet und definiert. Es ist der Zustand im Dunkeln der Gebärmutter (Erbarmen, Gebähren und Gebärmutter haben die gleiche hebräische Wortwurzel) kurz vor der Geburt. Chaos ist auch der Energielevel der Vernetzung aller Dinge und Geschehnisse miteinander. Ein klassischer Spruch aus der Chaosforschung lautet: "Wir können nicht wissen, ob der Flügelschlag eines Schmetterlings in Indien ein Unwetter in Nordamerika auslöst." Chaosforscher, wie Rupert Sheldrake, Zellbiologe, Terence McKenna, Ethnologe und Schamanismus-Experte, und Ralph Abraham, Mathematiker, arbeiten in ihrem spannenden Buch "Denken am Rande des Undenkbaren" mit dem Begriff der Attraktoren. Attraktoren sind nicht-hierarchische Signale und Zurufe zur Gemeinsamkeit, die aus dem Chaos entstehen. Erklärbar und definierbar sind sie nicht, aber durch- aus wahrnehmbar. Sie sind von unschätzbarer Bedeutung im schöpferischen und heiltherapeutischen Prozess. "Ordnung ist die Liebe der Vernunft", schreibt Claudel, "aber Chaos ist die Wonne der Fantasie". Die neustrukturierte Ordnung, die aus dem Chaos entsteht, ist nicht irrational, sondern physisch-charismatisch. Sie ist eine "sunder warumbe" Ordnung, eine bedingungslose, unmögliche und daher göttliche Ordnung, und sie manifestiert sich dort, wo wir sie am wenigsten erwarten. Erweiterte intuitive Wahrnehmung lässt die verborgene Verl.1etzung einer gottum- kleideten Materie realen Raum in unserem Leben gewinnen. Aus Chronos wird Kairos - das Erfühlen einer leibhaftigen Zeit, in der phänomenologische Wirklichkeit unseren mechanistisch verstrickten Alltag nicht negiert, sondern verwandelt. Es öffnen sich organisch-sinnliche Lebensalternativen, die die kontraktierten Paradigmen und Zwänge ablösen können. Natürlich wirken diese Kräfte schon jetzt in der Welt - sonst wären wir alle hoffnungslos verloren. Aber sie können noch unendlich lustvoller, vergnügter und vitaler ergreifen, als wir es uns überhaupt vorstellen können!

BETZ, OTTO: Das Schöne als Spiegelung des Göttlichen. Konturen einer Theologie der Schönheit bei Simone Weil. In: Geist und Leben, Januar 1998.

CLAUDEL, PAUL: Der Seidene Schuh oder Das Schlimmste tritt nicht immer ein. Salzburg 1939.

DUDA, SIBYLLE: Bertha Pappenheim (1859 -1936). Erkundungen zur Geschichte der Hysterie oder 'Der Fall Anna 0.'. In: DUDA, SIBYLLE/PUSCH, LUlSE F. (Hg.): Wahn- sinnsfrauen, Bd. I. Frankfurt am Main 1992.

ELLINGER, BERT: Ordnungen der Liebe. Ein Kurs-Buch. Heidelberg 1995.

KLEIST, HEINRICH VON: Der Zweikampf. Die heilige Cäcilie. Sämtliche Anekdoten. Über das Marionettentheater und andere Prosa. Stuttgart 1996.

NEIDHOFER, LOIL: Disziplin der Lust. Oldenburg 1989.

NEIDHOFER, LOIL: Intuitive Körperarbeit. Oldenburg 1991.

PARIS, REINE-MARIE: Camille Claudel. Frankfurt am Main 1989.

SACKS, OLIVER: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Reinbek 1997. SHELDRAKE, RUPERT /MCKENNA, TERENCE/ ABRAHAM, RALPH: Denken am Rande des Undenkbaren. München 1997.

SOLLE, DOROTHEE: Mystik und Widerstand. "Du stilles Geschrei". Harnburg 1997.

WEBER, GUNTHARD (Hg.): Zweierlei Glück. Die systematische Psychotherapie Bert Hellingers. Heidelberg 1994.

WEIL, SIMONE: Cahiers = Aufzeichnungen Bd.1-3. München 1991-1996.

WEIL, SIMONE: Zeugnis für das Gute. Traktate -Briefe -Aufzeichnungen. Olten-Freiburg 1976.

WILSON SCHAEF, ANNE: Mein Weg zur Heilung. Ganzheitliche Lebenshilfe in der Praxis. München 1995.

ZERCHIN, SüPHIE: Auf der Spur des Morgensterns. Psychose als Selbstfindung. München 1990.




GOTT OHNE HALSBAND

Ich glaube an einen Gott ohne Halsband, der sich weder von meinen noch von den Vorstellungen anderer zwingen lässt, aber gleichzeitig mich/uns mit einem bedingungslosen, zwecklosen, sich selbst verschenkenden Gnadenstrom begegnet. Mein Leben ist ein einziges Verlangen danach- von diesem sinnlichen Sinnlosen "gefressen" zu werden. Ich glaube an die pulsierende, sich immer wandelnde Materie als Ausdruck, als Landeplatz des Unaussprechlichen, und an das Multiversum einer dehnbaren, erfahrbaren Vielfalt der Wirklichkeit. Ich glaube an das unmöglich-notwendige Vergnügen, diese physisch-charismatische Wirklichkeit leibhaftig zu erspüren. Ich glaube auch an eine göttlich-weiblich und energetische Chaoskompetenz und vertraue auf sie als fruchtbarer Schoß und Geburtsort einer Neuwerdung. Ich glaube, dass Gott immer anders ist, nah und fern, umarmend und penetrierend, trennend und einigend, tötend und lebendig machend, völlig verlässlich im Ausdruck des Paradoxen. Ich glaube an die reale Präsenz der göttlichen Substanz in der Welt und daran, dass der Begriff Wunder nur ein anderer Ausdruck ist für Transformation. Ebenfalls glaube ich an die heilenden Kräfte der Abgründe Gottes, daran, dass das Dunkle dazu dient, mich an das Licht zu gewöhnen. Ich glaube, dass Glauben Glauben verlieren heißt. Ich glaube, daß die Zähigkeit, in der Leere und im Vakuum der Verzweiflung mich an Gott festzukrallen, mich das Handwerk lehrt; das Handwerk, die Gewalt und das Entsetzliche in mir und in der Welt anzuschauen; das Handwerk, verletzbar und geschützt zugleich mich auszuliefern. Ich glaube an die erotische, sinnliche Präsenz eines personalen und zugleich kosmischen "In-mir-Gegenüber". Ich glaube, dass die unersättliche und beunruhigende Sehnsucht, Gott schmecken, riechen, tasten, hören und vom Kopf bis zum Becken, von den Fingerspitzen bis zu den Fußsohlen fühlen zu wollen, meine menschliche Bestimmung ausmacht. Und ich glaube, daß dieses "nach Gott gelüsten" mir die Freude schenkt. Die Freude, die nichts anders kann, als sich weiterzuverschenken.

Candace Carter

aus "Mein Credo, persönliche Glaubensbekenntnisse, Kommentare und Informationen" Peter Rosien (Hg.) Publik-Forum 1999 ISBN 3-88095-098-9